verORTung

Mit dem „ort“ hat Peter Kowald 1994 einen Raum für Kultur im Herzen des Luisenviertels erschaffen. Konzerte, Lesungen, Ausstellungen, Filmabende – hier treffen sich bis heute die Free-Jazz-Szene und Freunde improvisierter Musik.

Es ist ein relativ unscheinbares Wohnhaus direkt an der V-förmigen Verschmelzung der Luisenstraße mit der Ottenbrucher Straße. Auffällig ist nur das üppige Rosengewächs, das die Fassade hinaufklettert und im Sommer das Gebäude mit prächtigen Blüten schmückt. Nur ein paar unaufdringliche Plakate, die dann und wann mal im Fenster der Wohnung im Erdgeschoss hängen, deuten darauf hin, dass hier regelmäßig Veranstaltungen stattfinden. Nicht selten sind es große Namen aus der Jazz- und der improvisierten Musikszene, die auf den Plakaten zu lesen sind. Im Innenraum finden etwa 70 Personen Platz, Reservierungen sind nicht vorgesehen, einen Vorverkauf gibt es auch nicht. Die Abendkasse öffnet jeweils eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn. Wer rein will, muss sich also selbst auf den Weg machen – am besten früh genug.

Für unwissende Luisenviertelbesucher, die an dem Gebäude vorbeischlendern, gibt es kaum sichtbare Hinweise auf die herausragende Geschichte dieses Ortes, der mittlerweile einen festen Platz in der Wuppertaler Kulturszene hat. Ins Leben gerufen wurde er von dem international bekannten Free-Jazz-Bassisten Peter Kowald. Der Wuppertaler war zeitlebens ein rastloser Geist, immer wieder musste er die Welt erkunden, stets auf der Suche nach Publikum für seine ganz persönliche Vorstellung von Musik. Dabei knüpfte er eifrig ein weltweites Netzwerk an kunst- und kulturbegeisterten Menschen. Peter Kowald nannte das „Dinge anzetteln“. Im Jahr 1994 beschloss er, seine Reisetätigkeit ruhen zu lassen. Nicht im Sinne einer Auszeit, sondern als Startschuss für ein neues Projekt namens „365 Tage am Ort“.

Kunst vor Ort
Der Plan des Musikers: Ein Jahr lang machte er seine Wohnung in der Luisenstraße 116 zum künstlerischen Zentrum, zu einem Ort des Zusammentreffens und des kreativen Austauschs. Während dieser Zeit bewegte Kowald sich ausschließlich zu Fuß oder nutzte sein dreirädriges Fahrrad, um mitsamt seinem riesigen Kontrabass von A nach B zu kommen. Über 120 Künstler aus 17 Ländern reisten damals nach Wuppertal, um an diversen Sessions, Workshops, Ausstellungen, Konzerten und anderen Aktionen teilzunehmen.

Offen für Neues
Aus der zunächst auf ein Jahr angelegten Aktion ging im Dezember 2002, zweieinhalb Monate nach Kowalds Tod, der Verein Peter Kowald Gesellschaft / ort e. V. hervor, der seitdem die Räume im Luisenviertel mit kulturellem Leben füllt und die Idee des Künstlers weiterführt. Heute gibt es im „ort“ eine breit gefächerte Auswahl an Veranstaltungen. Unter anderem verschiedene Konzertreihen, Festivals, Buch- und CD-Vorstellungen, Lesungen, Diskussionsrunden, Workshops, Ausstellungen und Filmabende. Im Herbst dieses Jahres ist beispielsweise wieder die monatliche Reihe „Cine:ort“ mit diversen Filmen aus dem Themenspektrum der improvisierten Musik gestartet.

Jedes Jahr bezieht ein Künstler beziehungsweise eine Künstlerin als Artist in Residence für rund einen Monat die Räume im „ort“. Die individuelle Programmgestaltung ist dabei vollkommen frei. Der „ort“ bietet ihnen den Raum, um außerhalb der gewohnten Umgebung und den gewohnten Abläufen neue Projekte zu entwickeln. Oftmals kommt es dabei zu Kooperationen mit Künstlern aus Wuppertal. Zuletzt war die französische Tänzerin Alice Boivin zu Besuch.

Im Rahmen der Reihe „Gesprächskonzerte“ erörtert Christoph Irmer regelmäßig sonntags zusammen mit einem Gast die Hintergründe improvisierter Musik. Der 1958 geborene Violinist hatte sich auch schon an Kowalds „365 Tage am Ort“ beteiligt. Der „ort“ verbindet, inspiriert, animiert zum Austausch, belebt die Szene, bringt Menschen zusammen und ermöglicht so „das große Gespräch“, das Peter Kowald immer wieder forderte. Noch wichtiger als der Austausch ist den rund 100 aktiven Mitgliedern des Vereins die Offenheit gegenüber neuen Ideen von jungen Künstlern aus den Bereichen Musik, Tanz und bildende Kunst. Es geht um das ständige Weiterentwickeln von Kowalds Denkanstoß, ohne dabei einen Personenkult zu betreiben.

Das Ort-Konzept ist offensichtlich erfolgreich: Bereits zum achten Mal in Folge wurde der „ort“ im letzten Jahr mit dem Spielstättenprogrammpreis des Landes NRW ausgezeichnet. Kurz zuvor freute sich das Team des Vereins über die wiederholte Auszeichnung mit dem bundesweit ausgeschriebenen Spielstättenprogrammpreis „Applaus“. Es ist damit zu rechnen, dass der Verein auch in Zukunft keine Ruhe gibt und gemäß Kowalds Credo auch weiterhin „Dinge anzetteln“ wird.

Artikel: Marc Freudenhammer
Foto: Süleyman Kayaalp