Die sogenannte Dritte Welle bezeichnet die Bestrebungen, des Deutschen liebstes Heißgetränk in die Sphären von Wein und Whiskey zu erheben. Ganz nebenbei entsteht dabei ein System aus fairem Handel und nachhaltiger Produktion.
Kein anderes Getränk in Deutschland ist beliebter als Kaffee. Fast einen halben Liter pro Kopf konsumieren die Deutschen im Durchschnitt. Doch meist wird das belebende Getränk eher nebenbei denn aus reinen Genussgründen getrunken. Coffee to go lautete in den vergangenen Jahren die Devise. Schnell zubereitet, mit viel aufgeschäumter Milch, Karamelsirup und getrunken aus einem Pappbecher. Doch die Szene ist im Umbruch. Kaffee-Enthusiasten auf der ganzen Welt wollen dem schwarzen Getränk seinen Geschmack wiedergeben.
Jenseits von Starbucks und Kapselmaschinen hat sich seit dem Ende der Neunzigerjahre ausgehend von den USA eine eigenständige Szene entwickelt, die sich nicht nur die Suche nach der perfekten Zubereitung auf die Fahnen geschrieben hat, sondern die auch für eine nachhaltige Produktion eintritt. Sie nennen sich die Dritte Welle (Third-Wave) – und es geht um einen Gesinnungswandel in Sachen Kaffeegenuss. Die beliebte Bohne, die immerhin den zweitgrößten globalen Markt nach Öl ausmacht, hat mehr zu bieten als das, was nach einem langen Arbeitstag in der Filtermaschine des Großraumbüros übrig bleibt.
Echte Vertreter der Dritten Welle loben das vielfältige Potenzial und werden nicht müde, die geschmacklichen Vorteile einer penibel kalkulierten Zubereitungsweise anzupreisen. Wer einem der engagierten Dritte-Welle-Baristas beim Kaffeefiltern zuschaut, weiß wie wichtig die Einhaltung von genauen Vorgaben ist. Die Herkunft, die Röstung, der Mahlgrad, die Kaffeemenge, die Temperatur und die Zeit sind wichtige Faktoren für die optimale Aromaentfaltung. Filterkaffee als Gourmetkost.
Cemal Şişman beschäftigt sich seit Jahren mit der Bohne und ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Dritten Welle. In den Neunzigern war er Inhaber des überregional bekannten Restaurants Derwisch in der Wuppertaler Nordstadt. Inzwischen betreibt er mehrere Cafés mit angeschlossener Rösterei in Istanbul. Seinen Kaffee vermarktet er unter dem Label Coffee Manifesto.
„Industrielles Kaffeepulver aus dem Supermarkt wird aus unzähligen verschiedenen Bohnen hergestellt, um ein konstant gleichbleibendes Aroma produzieren zu können. Wir arbeiten ausschließlich mit einzelnen Sorten von Produzenten, die unter Fair-Trade-Vorgaben produzieren und ihre Bohnen mit der Hand pflücken“, so der 53-Jährige. „Pestizide kommen dabei gar nicht zum Einsatz.“ Dass ein derartiger Kaffee seinen Preis hat, versteht sich von selbst. Aber das ist erst der Anfang. Die derart nachhaltig gewachsenen und liebevoll geernteten Bohnen werden unter speziellen schonenden Bedingungen transportiert und landen schließlich in einer der inzwischen zahlreichen kleinen Röstereien. Hier erwartet die Kaffeebohne ihre endgültige Veredelung. Was am Ende nach dieser aufwändigen Prozedur herauskommt bezeichnet Cemal Şişman als echten „Spezialkaffee“.
Renaissance des Filters
Doch: Nach dem Rösten ist vor dem Brühen. Und hier kommt die jahrelange Erfahrung ins Spiel. Während der Automatenbesitzer seinen Espresso unkompliziert und schnell per Knopfdruck aus der Maschine bekommt, begibt sich der Dritte-Welle-Enthusiast erst einmal an die Handmühle. „Der Mahlgrad ist entscheidend, wenn es um die Brühzeit geht“, so Cemal Şişman. „Je feiner die Bohnen gemahlen werden, desto langsamer fließt das Wasser durch den Filter.“ Um ungewünschte Aromen jeglicher Art aus dem Heißgetränk fernzuhalten, kommt dabei übrigens ausschließlich gefiltertes Wasser zum Einsatz. Die genaue Menge des Kaffeemehls sowie des benötigten Wasser ist für jede Brühtechnik natürlich festgelegt. Bereits an diesem Punkt wird klar: Kaffee brühen ist eine exakte Wissenschaft. Hier wird nichts dem Zufall überlassen. Messbecher, Stoppuhr und Waage gehören wie selbstverständlich dazu, wenn man sich auf die hohe Kunst des Aufbrühens einlassen will.
Immerhin kostet der pure Genuss nicht die Welt. Selbst wenn man sich dazu entschließt, ein vollständiges Setup anzuschaffen, liegt man preislich immer noch weit unter den Kosten für eine vollautomatsche Espressomaschine. Und die Möglichkeiten, den Geschmack aus der Bohne und in die Tasse zu bekommen sind extrem vielfältig. Ob mit dem AeroPress, einer einfachen Mokkakanne, V-60-Keramikfilter, French Press, per Cold Brew oder im Chemex – jede Technik bringt neue geschmackliche Nuancen.
Online-Workshops
Apropos Vielfalt. Ein direkter Vergleich mit der Weinkultur ist keineswegs aus der Luft gegriffen: „Beim Wein spricht man von 450 bis 500 Aromen“, erklärt Cemal Şişman, „beim Kaffee sind es über 860. Insgesamt geht man heute sogar von 1200 aus, die aber bis jetzt noch nicht alle definiert wurden.“ Wer den gefilterten Genuss wirklich erleben will, der muss sich mit der Materie auseinandersetzen – vor allem auch in geschmacklicher Hinsicht. Genau wie beim Wein muss man über die Zeit lernen, was es alles zu „erschmecken“ gibt.
Was die Zubereitung angeht, können sich Interessierte auf vielen Wegen schlau machen. Das Internet ist voll mit entsprechenden How-to-Videos und das Angebot an entsprechenden Workshops ist in den letzten Jahren beachtlich gewachsen, „manche Cafés bieten diese sogar kostenlos an“, so Cemal Şişman. „Vielen geht es um die Kultur, die dahinter steht.“ Und der Trend zum dezentral vermarkteten Fair-Trade-Kaffee breitet sich kontinuierlich weiter aus. In immer mehr deutschen Städten eröffnen kleine Läden, die sich der Dritten Welle verpflichtet fühlen.