Erlbruchs Werkstatt

Eine Buchwidmung von Wolf Erlbruch

Im Dezember 2022 starb der weltberühmte Kinderbuchautor Wolf Erlbruch im Alter von 74 Jahren. Er lebte und arbeitete im Luisen­viertel. Buchhändler  Thomas Schmitz erinnert sich an lange Gespräche und rauchende Löwen.

Selten hadere ich mit mir, wenn es darum geht, eine Entscheidung herbeizuführen. Jetzt sitze ich an meinem Schreibtisch und zögere: „Vom Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“, wäre die eine Möglichkeit. Immerhin begründete das Buch den Weltruf Wolf Erlbruchs. Oder „Die Werkstatt der Schmetterlinge“, das er gemeinsam mit der nicaraguanischen Schriftstellerin Gioconda Belli gemacht hat? Wenn ich jemals einen Hund haben sollte, dann bitte den ganz unten am Weiher, der einfach zufrieden mit sich und der Welt ist. Oder „Die fürchterlichen Fünf“, eine tierische Rassel­bande, die sich fürchterlich auf die Nerven geht, bis sie auf eine Pfannkuchen-Bude mit Musik kommen. Herrlich anarchisch. Auch „Ente, Tod und Tulpe“ darf in meiner Auflistung, was mein Lieblingsbilderbuch von Wolf Erlbruch ist, nicht fehlen. Und wissen Sie was: Nicht, dass ich mich nicht entscheiden könnte; ich will es einfach nicht!

Ein Vorbild, ein Lehrer
Erlbruchs Bilderbuchkarriere begann eher zufällig. Der ehemalige Verleger des Peter Hammer Verlags, Hermann Schulz, suchte länger schon nach einem Illustrator für ein besonderes Bilderbuchprojekt. Ziemlich gelangweilt besuchte er eine Vernissage in Düsseldorf, trank zwei, drei Gläser Sekt und blätterte in einer Illustrierten, als der Galerist seine Unlust bemerkte. Er gesellte sich zu Schulz und fragte, ob er etwas für ihn tun könne. „Kannst du“, sagte Schulz, schlug die Zeitschrift auf und hielt dem Mann eine doppelseitige Samson-Tabakwerbung unter die Nase. „Sag mir, wer die Anzeige gestaltet hat!“ „Der heißt Erlbruch und ich wohne in seinem Haus in Wuppertal.“ Die Antwort kam wohl ebenso schnell wie unerwartet. Die Geschichte, um die es damals ging, hieß „Vom Adler, der nicht fliegen wollte“. Aufgeschrieben hatte sie der Ghanaer James Aggrey. Es war das erste Bilderbuch-Experiment aus der Feder von Wolf Erlbruch und der Beginn einer weltweit einmaligen Karriere als Bilderbuchillus­trator – ein Vorbild, ein Lehrer für so viele Generationen nach ihm.

Welterfolg für einen Maulwurf 
Sein Ruf als Bilderbucherneuerer ist sicher­lich eng verbunden mit der Geschichte „Vom Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht“. Millionenfach verkauft und in 27 Sprachen übersetzt, begründete sie eine neue Ära von Bilderbüchern. Kinder wurden genauso angesprochen wie Erwachsene, Illustrationen waren plötzlich nicht mehr kitschig-kindlich, sie hatten immer mehr grafische Elemente und bekamen dadurch eine ganz andere Ebene. Erlbruch bediente sich dabei der Klebetechnik: „Ich war immer wieder erstaunt, wie gut die Wirkung ist, wenn ich Figuren erst gezeichnet, dann ausgeschnitten und erneut auf anderes Papier aufgeklebt hatte. Die Figuren waren plötzlich so ungeheuer präsent.“

Wolf Erlbruch bei einer Signier­stunde in der Buchhandlung v. Mackensen. Foto: Michael Kozinowski

Dass der Maulwurf funktionieren würde, war ihm eigentlich sofort klar. Zum einen „kam ich schließlich aus der Werbung“ und zum anderen „war ich doch als Kind selber fasziniert, wenn ein Pferd seine Äpfel fallen ließ – plopp, plopp, dann musste ich da einfach hinschauen.“ So sei es auch nicht verwunderlich gewesen, dass der Maulwurf sich erst etwas schwer tat, weil Buchhändler:innen und Kritiker:innen alle die Nase gerümpft hätten und einen großen Bogen um das Buch machten. Der Durchbruch gelang in den Kindergärten. Dort hätten Kinder das Buch für sich entdeckt, es so zerliebt, dass Eltern sich genötigt sahen, den Maulwurf für das eigene Kinderzimmer anzuschaffen.

Wolf Erlbruch traf ich mehrere Male in all den Jahren. Er kam zu Signierstunden, begleitete den englischen Kinderbuchautor John Saxby auf seiner Eduard-Speck-Tour, einmal war ich sogar Gast in seiner Werkstatt in Wuppertal. Auflagenhöhen, Bestsellerlisten und Auszeichnungen schienen ihm damals nicht wichtig zu sein. Beim ersten Kaffee redeten wir eher über Winter­einbrüche, alte Häuser und die Verpflichtung, sie als Erbe zu wahren.

Rauchende Löwen
Mit fünfzehn verließ Erlbruch die Schule („Das war wirklich nichts für mich!“) und begann eine Schriftsetzerlehre. Danach studierte er an der Folkwang-Hochschule in Essen-Werden Grafik und Design. Von 1967 bis 1974 lebte er in der Abteistadt und erinnerte sich sehr gerne an die Zeit. „Ich habe lange als Aushilfspostbote gearbeitet. Wenn am Monatsende Rentenauszahlung war, hatte ich oft fünfunddreißig, vierzigtausend Mark in meinem Postbeutel. Das darfst du heute gar Keinem mehr erzählen. Aber reichlich Trinkgeld habe ich dann immer gemacht. Die Werdener waren nämlich großzügige Menschen. Die meisten gaben mir von ihrer Rente einen Fünfer ab.“

Während seiner Zeit als Werbegrafiker arbeitete Wolf Erlbruch ebenfalls überaus erfolgreich. An die Samson-Werbung kann ich mich persönlich gut erinnern. Die in Jeans gekleideten, rauchenden Löwen sprachen mich, damals starker Raucher, an. Für den Playboy hatte er gezeichnet und auch für den Stern. In seinem Archiv zeigte er mir Illustrationen zu einem Vorabdruck von Cruz-Smiths Gorki Park. Auf einem Bild entdeckte ich Arkadi Renko alias William Hurt, auf einem anderen einen Mann, der Lee Marvin sehr ähnlich sah. „Das Interessante ist,“ erklärte mir Wolf Erlbruch, „dass die Illustrationen vor dem Film entstanden sind. Ich habe manchmal den Eindruck, die Leute von der Twenty Century Fox hätten nach diesen Bildern gecastet.“

In seiner Werkstatt sah es eigentlich aus wie im übrigen Haus auch. Überall alte Möbel, geordnetes Chaos, wo man hinschaute Bilder, Skulpturen, Kuriositäten. Auf einer Fensterbank zum Beispiel stand das Skelett einer weißen Hausziege. „So ein Skelett wollte ich immer schon haben, man kann so viel sehen, so viel lernen. Jahre habe ich gebraucht, bis ich einen Präparator gefunden hatte, der mir so ein Teil angefertigt hat.“ Das Atelier selbst war ein neunzig Quadratmeter großer Raum. An mindestens sechs Tischen konnte gearbeitet werden, überall Farben, Papier, Stifte, Skizzenbücher, Keilrahmen und Dinge, die man eben brauchte oder nicht brauchte: ein Krug, eine Pferdeschädel, eine Maske, Bücher und eine kaputte Brille. Ich konnte mich nicht satt sehen.

„Haben Sie ein Lieblingsbuch?“, wollte ich wissen. „Mehrere!“, war seine Antwort. „Eins liegt mir aber besonders am Herzen. Das ist ‚Ente, Tod und Tulpe‘. Ein Jahr lang habe ich überlegt, Skizzen gemacht, Ideen verworfen. Dann ist meine Verlegerin Antje Kunstmann gekommen und setzte sich mit der Drohung auf die Couch in meinem Atelier, nicht eher zu gehen, bis die Arbeit abgeschlossen sei. Ich brauchte einen Tag und eine Nacht, da war ich fertig.“ Der Abend verging schnell und plötzlich fiel mir wieder ein, warum ich zwei Originalzeichnungen von Wolf Erlbruch gerahmt in meiner Wohnung hängen habe. 

Kinderkram
1995 lud ich Erlbruch ein, in Essen mit zwei Schulklassen jeweils zwei Schulstunden lang zu malen und zu arbeiten. „Die Werkstatt der Schmetterlinge“ wurde gelesen und „Die fürchterlichen Fünf“. In kürzester Zeit entstanden Rodolfo, die Kröte und die Ratte auf großem Flipchart-­Papier aus der Hand von Erlbruch. Am Ende der Stunde sagte er leise zu mir, die Schulklasse könnte die Bilder ja mit in die Schule nehmen. Er würde sie ihnen gerne schenken. Ich leitete das Angebot an die begleitende Lehrerin weiter, die mich völlig erstaunt ansah und meinte: „Was sollen wir denn damit?“ Auch die Lehrerin der zweiten Gruppe winkte ab: „Das ist doch Kinderkram, das brauchen wir nicht.“ Ich persönlich registrierte zwar die Ignoranz der beiden, intervenierte aber nicht, sondern rollte die Bilder zusammen, nahm sie mit zu mir und hüte sie seit diesem Tag wie einen Schatz. Eine schöne Geschichte, befand Erlbruch, und wir beide mussten laut lachen. 

2017 erhielt Wolf Erlbruch den Astrid-Lindgren-Memorial-Award für sein Lebens­werk. Es ist der höchstdotierte Kinderbuchpreis der Welt und kommt einer Nobel­preis-Auszeichnung sehr nahe. Ich kenne nicht einen, der die Erlbruch’schen Bücher kennt, der sich nicht gemeinsam mit ihm über diese Auszeichnung gefreut hätte. Heimlich musste ich immer wieder an die beiden Lehrerinnen denken. Ob ihnen bewusst ist, was für einen Schatz sie damals ausgeschlagen haben?

Mit fünfzehn verließ Erlbruch die Schule und begann eine Schriftsetzerlehre.

Im Juni dieses Jahres wäre Wolf Erlbruch 75 Jahre alt geworden. Ein Anlass für mich, ihn zu fragen, ob wir nicht das Werkstattgespräch noch einmal fortführen könnten. Ich schrieb eine Mail und bekam prompte Antwort, allerdings von seiner Frau: „Leider geht es Wolf Erlbruch nicht gut. Er ist erkrankt und darum muss ich Ihnen in seinem Namen absagen.“ Es blieb ein Gefühl, dass man nur sehr undeutlich als mulmig hätte bezeichnen können. Wenige Tage später, am 11. Dezember 2022, starb Wolf Erlbruch. Ich werde ihn in Erinnerung behalten – zurückhaltend, herzlich, großzügig und eben genial.

von Thomas Schmitz
mit freundlicher Genehmigung 
des KUDU-Lesemagazins